Samstag, 4. September 2010

Angekommen.

"Als dann dieser abgemagerte, pechschwarze Junge vor mir stand, in derselben Uniform wie ich, und mir in detaillierten und schwer blutigen Bildern seine Flucht aus seinem Heimatland Somalia beschrieb. Da wusste ich, ich bin angekommen im Herzen von London."

Das Leben hier ist extrem, in jeder Hinsicht. Die Grenzen zwischen extrem dicken Brieftaschen und extremer Armut verlieren sich zwischen den Schlüsseln zu einem 6-Millionen-Pfund-Stadthaus in meiner Hosentasche und den Männern mit den Baumwollmützen, die Morgen für Morgen vor meiner Tubestation aufwachen und die Nacht zwischen leeren Whiskey-Flaschen und stinkenden Müllcontainern verbracht haben.

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Der Zug schießt ohne Vorwarnung aus der Dunkelheit, hier unten ist die Luft dick und stickig. Ich habe wieder nichts zu tun, ich kenne hier niemanden, bin auf Erkundungstour durch den Großstadtdschungel, ein Tropfen im Blutkreislauf dieser monströsen Stadt. Ich steige in den Waggon, und penetranter Schweißgeruch drückt auf meine Nasenschleimhäute. Menschen in bunten Klamotten und karierten Kiltröcken, Fetzen von knarzender Indie-Musik. Embankment Station, Bakerloo Line Northbound, Platform 2. Dann wird es dunkel.

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Ein Teppich aus Lichtern zu meinen Füßen, ich fliege. Der Turm ist kleiner als ich ihn in Erinnerung hatte. Ich bin älter geworden, jedoch lange nicht erwachsen. Wo wäre das Glück, dass ich in diesem Moment empfinde, wenn ich alt wäre? Verdrängt von zu viel Erfahrung, verpackt in Reiseführern und Geldsorgen, Berufsperspektiven und rationaler Objektivität? Ich bin noch so jung, und die Stadt liegt mit zu Füßen. Adrenalinschub, ich schließe meine Augen.

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Sie ist schön. Anders kann man das nicht sagen, schön. Wie sie da sitzt, die Beine legére übereinander geschlagen, die Bluse leicht geöffnet und die gewellten, blonden Haare über eine Schulter geschlagen. Sie wird eines Tages das Cover der Vogue zieren, der Esquire oder der Elle. Oder wenigstens das der TimeOut London. Ich nippe an meinem Earl Grey. Sie winkt den Kellner heran, bezahlt ihre Rechnung und schwebt leise aus dem Café.

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"Lukas, we are in Starbucks on Putney High Street. Want to join us? Or call me, Anneli." Es ist zwölf Uhr zweiunddreißig. Ich werfe mich in die Klamotten von gestern Abend, ein blau, weiß und rot kariertes Hemd, eine graue Strickjacke, blaue Jeanshose und graue Chucks mit weißen und roten Querstreifen, setze den Cuban Hat auf. Keys, Mobile, iPod, Starbucks Card. Raus aus dem Haus, Tür abschließen. Ich renne, renne zu schnell und werde beinahe von einem roten Doppeldeckerbus überrollt. Putney High Street, es ist zwölf Uhr siebenunddreißig. Ich fühle mich schwerst wohl hier.

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Richte den Hut im Spiegel, streiche mit einem nassen Papiertuch über die Gläaser meiner Brille. Passt schon. Der Kollege neben mir schwankt, aber grinst. Ich grinse zurück. Er spricht mich an, wartet keine Antwort ab, aber erklärt mir, dass man Kokain am besten vom Rand des eckigen Waschbeckens schniefen sollte, wenn man dabei gestört werde, könne man ja immer noch behaupten, man wasche sich nur das Gesicht und in einer geschickten Bewegung die weiße Pulverlinie wegschnaufen. Er demonstriert leicht wackelig die geschickte Bewegung. Ich muss lachen. Er auch. "Have a nice evening, mate." Er schwankt durch den Pub, es ist eine alte Hafenspelunke, schön hergerichtet. Überall Ledersofas und kleine Tischchen, Cider und Beer, Peanuts und Crisps. Über einem Grill brutzeln halbe Hähnchen, marrokanisch gewürzt. Ich sehe glückliche Menschen. Es ist Freitagabend, ein warmer Spätsommertag und England's Jermaine Defoe schießt sein drittes Tor. Jermaine Defoe spielt nicht für den FC Fulham, sondern für Tottenham. Hundert Meter die Straße herab befindet sich das Stadion des FC Fulham, direkt an der Themse. Daher nur verhaltener Jubel.

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„In London's East there is one basic rule: Don't stand out!“ - Jeder Ratschlag von ihm ist wertvoll, er kennt die Stadt in- und auswendig. Geboren nur zwei Kilometer weiter, aufgewachsen am anderen Ende von Wandsworth. Was er sagt ist Gesetz. Will eine Taube unter Papageien nicht auffallen, muss sie sich in farbenfrohe, schöne Stoffe hüllen.

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Diese Woche verging wie im Flug, ich lebe mich langsam ein. Stundenplan und Straßenmode konkurrieren um die Maiorität meiner Gedankenwelt. Ich lerne viel, und mit jedem Tag spüre ich, wie meien Umgebung mich fester in Griff nimmt, mich fesselt und fasziniert. Ich gucke einen Film über eine Entführung in Paris, bin allein zu Haus. Samstag Abend, ich schreibe diese Zeilen aus einer anderen Welt, so gleich und doch so anders. Ich vermisse, aber ich bin glücklich. Einer unter dreizehn Millionen.




Dirty Diggers - U.V.


Drei der Lieder, die mich durch die erste Woche begleitet haben.